Der Junge im Kästchen: Abenteuer auf dem Dachboden
Ein Nachmittag voller Langeweile
Tim war neun Jahre alt und hasste Regen. Heute prasselte er besonders heftig gegen die Fensterscheiben von Omas altem Haus. Er war dort, weil seine Eltern übers Wochenende verreist waren. Normalerweise war das kein Problem, denn Oma war nett und kochte die besten Nudeln der Welt. Aber heute war es langweilig.
„Kann ich raus?“ fragte Tim zum vierten Mal.
„Bei dem Wetter? Du holst dir eine Erkältung“, sagte Oma freundlich und schob ihm einen Kakao hin. „Such dir was zum Spielen. Aber pass auf: Der Dachboden ist alt, also nichts anfassen, was gefährlich aussieht, verstanden?“
Tim nickte, obwohl er sofort wusste, wohin er gehen würde.
Der geheimnisvolle Dachboden
Der Dachboden war für Tim wie ein Schatz. Alte Möbel, vergessene Kisten, verstaubte Bilder. Alles roch nach Geschichten. Er schob eine schwere Kiste beiseite und kletterte über einen wackeligen Stuhl.
In der hintersten Ecke stand eine alte Holztruhe. Der Deckel war nicht ganz geschlossen, als hätte ihn jemand eilig zugemacht.
„Na, was bist du?“ murmelte Tim. Vorsichtig zog er daran. Der Deckel knarrte laut.
Drinnen lagen alte Tücher, ein paar vergilbte Briefe und ein kleines Kästchen. Es war aus dunklem Holz, kaum größer als ein Schuhkarton, und auf der Vorderseite war ein winziger Spiegel eingelassen. Darauf war eine geschnitzte Figur zu sehen: ein Junge mit einem merkwürdigen Lächeln.
Ein leises Klopfen
Tim nahm das Kästchen vorsichtig heraus. Es war schwerer, als es aussah. Er drehte es hin und her, klopfte leicht dagegen. Und da war es: ein leises Klopfen von innen.
Tim erstarrte.
„Hallo?“ flüsterte er.
Zu seinem Erstaunen kam eine Antwort. Ganz leise, fast wie ein Seufzen: „Bitte… hilf mir.“
Tim ließ beinahe das Kästchen fallen. Er sah sich hektisch um, aber der Dachboden war leer.
„Wer… wer bist du?“ flüsterte er.
„Ich war mal wie du“, hauchte die Stimme. „Aber jetzt bin ich hier drin. Du hast den Schlüssel gefunden, oder?“
Tim blickte in die Truhe. Tatsächlich lag dort ein kleiner silberner Schlüssel.
Oma kommt hoch
Bevor Tim etwas tun konnte, knarrten die Treppen. Oma kam langsam hoch, wahrscheinlich um nachzusehen, warum es so still war.
Tim stopfte den Schlüssel und das Kästchen zurück in die Truhe, klappte sie zu und setzte sich unschuldig auf den Boden.
„Alles okay, mein Schatz?“ fragte Oma und blinzelte in den staubigen Raum.
„Ja, Oma. Ich… schaue nur.“
„Gut, aber bleib vorsichtig. Der Dachboden ist kein Spielplatz. Und manche Dinge hier oben gehören zu Geschichten, die nicht erzählt werden wollen“, sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Tim bekam eine Gänsehaut.
Die Versuchung bleibt
Am nächsten Tag ließ ihn das Kästchen nicht mehr los. Er musste daran denken, wie die Stimme geklungen hatte: Traurig, bittend, aber nicht böse.
Als Oma am Nachmittag schlief, schlich Tim wieder nach oben.
„Bist du noch da?“ flüsterte er, als er den Deckel der Truhe hob.
Ein leises Klopfen antwortete. „Ja. Bitte… hilf mir. Ich will nur wieder frei sein.“
Tim nahm das Kästchen heraus, den Schlüssel in der Hand. „Aber… bist du gefährlich?“
Die Stimme lachte leise. „Nein. Ich war mal ein Junge wie du. Ich will nur wieder spielen. Ich verspreche, ich tue dir nichts.“
Tim zögerte. Dann drehte er vorsichtig den Schlüssel im Schloss.
Ein heller Lichtstrahl erscheint
Das Schloss klickte. Langsam öffnete Tim die kleine Tür.
Ein heller Lichtstrahl schoss heraus, so warm wie Sonnenlicht. Er blendete ihn kurz, aber es tat nicht weh.
Im Inneren war kein Junge, sondern ein kleiner Zettel, alt und vergilbt. Darauf stand: „Danke, dass du dich an mich erinnerst. Geschichten dürfen nicht vergessen werden.“
Als Tim die Figur ansah, bemerkte er, dass sie sich verändert hatte. Das Lächeln war breiter und ein winziges Loch in der Brust schimmerte golden.
„Hörst du mich noch?“ fragte er vorsichtig.
„Ja“, hauchte die Stimme. „Du hast mich gefunden. Solange du meine Geschichte behältst, bin ich nicht mehr allein.“
Ein neuer Freund
Tim setzte das Kästchen zurück in die Truhe, aber dieses Mal schloss er sie nicht ganz.
In den nächsten Tagen ging er immer wieder hinauf, sprach mit der leisen Stimme. Sie erzählte ihm von Spielen, die Kinder vor langer Zeit gespielt hatten, von Sommern, die längst vorbei waren, und von Mut, der manchmal größer ist als Angst.
Manchmal klopfte es leise, als wollte die Stimme sagen: „Ich bin noch hier.“
Tim erzählte Oma nie davon, aber jedes Mal, wenn er sie ansah, hatte er das Gefühl, sie wusste mehr, als sie sagte.
Als Tims Eltern ihn abholten, winkte er Oma zum Abschied. Doch bevor er ging, rannte er noch einmal zum Dachboden und legte den Schlüssel zurück in die Truhe.
„Ich komme wieder“, flüsterte er.
Und ganz leise, kaum hörbar, kam die Antwort: „Ich warte.“