Das Gesicht im Fenster: Verfolgt und in die schwarze Tiefe gerissen
Ein fremdes Gesicht erscheint hoch oben im Glas
Marie war zweiunddreißig und lebte allein in einer kleinen Wohnung im zehnten Stock eines grauen Hochhauses. Sie arbeitete tagsüber im Büro, die Abende verbrachte sie meistens vor dem Fernseher oder mit einem Buch. Es war ein normales, ruhiges Leben.
Bis zu jenem Abend.
Sie saß auf dem Sofa, eine Tasse Tee in der Hand, als sie es zum ersten Mal sah: ein Gesicht. Direkt vor dem Fenster, draußen. Starr, bleich, reglos.
Marie zuckte zusammen, beinahe wäre ihr die Tasse entglitten. Sie starrte hinaus, doch dort konnte niemand sein. Zehn Stockwerke über dem Boden, keine Balkone, keine Vorsprünge. Nur Glas und die Nacht.
Das Gesicht verschwand nach wenigen Sekunden. Marie blinzelte, schüttelte den Kopf. „Erschöpft“, murmelte sie. „Nur Einbildung.“
Doch die Unruhe blieb.
Das unheimliche Antlitz kommt immer wieder
Am nächsten Abend war es wieder da.
Diesmal länger. Blass, mit dunklen Augen, die sie anstarrten. Die Züge waren verschwommen, als ob das Gesicht im Nebel lag… und doch zu deutlich, um es zu ignorieren.
Marie wagte nicht, sich zu bewegen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Nach einigen Augenblicken verschwand es.
Die nächsten Tage wiederholte sich das Schauspiel. Immer am Abend, immer wenn die Sonne untergegangen war und die Lichter der Stadt aufflackerten, erschien das Gesicht im Fenster. Nie mit einer Regung, nie mit einer Bewegung. Nur dieses stumme Anstarren.
Marie erzählte niemandem davon. Wer sollte ihr glauben? Stattdessen zog sie die Vorhänge zu, so fest, dass kein Licht durchdrang. Doch selbst dann glaubte sie manchmal, die Umrisse durch den Stoff zu sehen.
Schlaflosigkeit treibt die Frau an den Rand
Die Nächte wurden zur Qual. Marie wachte oft schweißgebadet auf, überzeugt, das Gesicht stünde direkt vor ihr.
Sie begann, die Wohnung anders wahrzunehmen. Schatten schienen länger zu verweilen, Spiegel reflektierten manchmal nicht nur sie, sondern einen zweiten Umriss.
Am schlimmsten war die Stille. Sie konnte keinen Laut hören, wenn das Gesicht im Fenster erschien. Kein Autogeräusch, kein Rauschen des Windes, nur absolute, bedrückende Stille.
Ihre Hände zitterten, wenn sie morgens den Vorhang zurückzog. Und doch war das Fenster immer leer. Kein Abdruck, kein Hinweis, dass jemals etwas dort gewesen war.
Marie fühlte sich gefangen in ihrer eigenen Wohnung.
Ein verzweifelter Moment verändert alles
Eines Abends hielt sie es nicht mehr aus.
Das Gesicht war wieder da. Näher als sonst, so nah, dass sie die blassen Lippen erkennen konnte. Es schien zu warten.
Marie sprang auf, riss den Vorhang zur Seite. Mit einem Schrei riss sie das Fenster auf, als wolle sie die Gestalt stellen, beweisen, dass da nichts war.
Und tatsächlich: Das Gesicht war verschwunden. Nur die kalte Nachtluft schlug ihr entgegen, die Stadtlichter funkelten weit unter ihr.
Erleichterung mischte sich mit Verzweiflung. Sie atmete tief, die Hände am Fensterrahmen. „Es war nur… Einbildung“, flüsterte sie.
Dann drehte sie sich um.
Die Wahrheit lauert direkt hinter ihr
Hinter ihr stand jemand.
Die Gestalt. Das Gesicht.
Nicht mehr draußen, sondern in ihrem Zimmer, nur wenige Schritte entfernt. Blass, grinsend, die Augen schwarz und tief. Der Körper war schemenhaft, fast durchsichtig, und doch real genug, dass der Boden unter ihren Schritten knarzte.
Marie wollte schreien, doch kein Laut kam heraus.
In der nächsten Sekunde packte die Gestalt sie. Kalte Hände legten sich auf ihre Arme, rissen sie nach hinten, mit einer Kraft, die nicht von dieser Welt war. Marie stolperte, schlug gegen den Fensterrahmen.
Ein kurzer Schrei, dann der Sturz.
Die Lichter der Stadt drehten sich, verschwammen. Alles wurde schwarz. Dann der dumpfe Aufschlag auf dem Boden. Wie ein Ei, das dort auf dem Asphalt zerschellte.
Am Ende bleibt nur ein Unfallbericht
Am nächsten Morgen war das Hochhaus von Blaulicht erleuchtet. Polizisten sperrten den Bereich ab, Nachbarn standen fassungslos auf dem Gehweg.
„Sie muss gesprungen sein“, sagte einer der Beamten. „Oder gestolpert. Fenster war offen.“
„Selbstmord vielleicht?“ murmelte ein anderer. Zustimmendes Nicken.
Doch niemand hatte gesehen, was wirklich geschehen war.
In der Wohnung blieb nur das offene Fenster zurück. Auf dem Glas kein Fingerabdruck außer Maries. Auf dem Boden ein zerbrochenes Teeglas.
Und wer genau hinsah, meinte im Fenster noch etwas anderes zu erkennen: ein schwacher Abdruck, wie ein Gesicht, das von außen dagewesen war.
Doch die Polizei vermerkte nur: Unglücksfall.