Das Monster im Schrank: Nächtliche Stimme aus der Dunkelheit
Das Geräusch in der Nacht
Lena war zehn Jahre alt und hatte ein ganz normales Kinderzimmer. Es war bunt gestrichen, die Wände voller Poster von Tieren und neben dem Bett stand ein großer weißer Kleiderschrank. Tagsüber war alles fröhlich und hell. Doch nachts, wenn das Licht ausging, wirkte der Schrank plötzlich riesig und irgendwie bedrohlich.
Eines Abends, als Lena schon fast eingeschlafen war, hörte sie etwas. Es war kein Knarren der Dielen und auch nicht das Miauen der Nachbarskatze. Es war ein Flüstern. Ganz leise, so als würde jemand mit zusammengepressten Lippen „pssst“ machen.
Lena hielt die Luft an. Sie lauschte. Da war es wieder! Ein ganz schwaches, schnappendes Flüstern – und es kam eindeutig aus dem Schrank.
„Bestimmt nur Einbildung“, murmelte sie und zog die Decke über den Kopf. Doch das Geräusch hörte nicht auf. Stattdessen wurde es klarer. Worte!
„Lenaaa… komm… spiel… mit mir…“
Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Vielleicht träumte sie? Aber ihre Augen waren weit offen. Sie starrte in die Dunkelheit, bis ihr irgendwann die Augen zufielen.
Am nächsten Morgen wirkte alles normal. Der Schrank stand ruhig da, die Sonne schien und kein Laut war zu hören. Doch Lena wusste: Das war kein Traum gewesen.
Niemand glaubt dem kleinen Mädchen
Beim Frühstück erzählte Lena ihrer Mutter vom Flüstern. Doch die lachte nur.
„Du hast bestimmt etwas geträumt, Schatz. Oder vielleicht kam das Geräusch von draußen.“
„Nein! Es kam aus meinem Schrank!“ Lena stampfte mit dem Fuß auf.
Auch ihr älterer Bruder Tom grinste nur. „Na klar! Bald erzählst du noch, dass ein Monster unter deinem Bett wohnt.“
Lena wurde wütend. Niemand nahm sie ernst. In der Schule konnte sie sich kaum konzentrieren. Immer wieder dachte sie an den Schrank.
Am Nachmittag beschloss sie, mutig zu sein. Sie öffnete die Türen, räumte alle Kleider heraus und suchte jeden Winkel ab. Nichts. Keine Geheimtür, kein Loch in der Wand. Nur Kleider, Schuhe und ein Stapel Brettspiele.
„Vielleicht bilde ich mir wirklich etwas ein“, murmelte sie. Aber tief in ihrem Bauch wusste sie: Das Flüstern war echt.
In der nächsten Nacht hörte sie es wieder. Zuerst nur ein Wispern, dann deutlicher: „Lena… warum suchst du mich nicht? Hier drinnen… ganz nah…“
Lena schluckte. Diesmal zog sie sich die Decke nicht über den Kopf. Sie wollte es genau wissen. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich im Bett auf und starrte den Schrank an. Die Türen waren geschlossen. Doch es klang, als stünde jemand direkt dahinter.
Die erste Begegnung mit dem Monster
Am dritten Abend fasste Lena einen Plan. Sie stellte eine Taschenlampe neben ihr Bett und wartete. Wieder kam das Flüstern. Diesmal zitterten ihre Hände, doch sie griff nach der Lampe, sprang aus dem Bett und rief laut:
„Hör auf, mich zu erschrecken! Wer bist du?“
Das Flüstern verstummte. Stille.
Lena schlich langsam zum Schrank, jeder Schritt fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Dann legte sie die Hand auf den Griff und riss die Tür auf.
Nichts. Nur ihre Kleider hingen still und bewegungslos da. Sie atmete erleichtert aus – da hörte sie es direkt hinter den Klamotten: „Hiiiier…“
Etwas bewegte sich. Ganz langsam schob Lena die Kleiderbügel auseinander. Ihre Taschenlampe leuchtete in die dunkle Tiefe – und sie sah zwei kleine leuchtende Punkte, die sie anstarrten. Augen!
Lena stolperte zurück, fiel fast hin. „Wer… wer bist du?“ stammelte sie.
Da trat eine kleine Gestalt hervor. Sie war nicht viel größer als ein Teddybär. Ihre Haut war grau wie Staub, die Augen leuchteten wie Glühwürmchen, und sie hatte ein breites, schiefes Grinsen.
„Ich bin Nox“, flüsterte die Gestalt. „Ich wohne im Schrank. Ich habe lange gewartet… auf dich.“
Lena riss erschrocken die Schranktür zu und rannte ins Bett. Zitternd zog sie die Decke hoch. Doch in ihrem Kopf hallte die Stimme weiter: „Wir werden Freunde… für immer…“
Das Monster im Schrank: Der geheime Vertrag
Am nächsten Tag konnte Lena an nichts anderes denken. War Nox böse? Oder wollte er wirklich nur spielen? Sie war neugierig – und ein bisschen wütend, weil er sie so erschreckt hatte.
Am Abend, als das Flüstern wieder begann, ging sie entschlossen zum Schrank. „Wenn du wirklich mein Freund sein willst, musst du mir beweisen, dass du nett bist“, sagte sie tapfer.
Die Schranktür öffnete sich von selbst. Nox trat heraus, diesmal etwas deutlicher sichtbar. Er sah nicht mehr ganz so unheimlich aus, eher wie eine merkwürdige Puppe mit viel zu großen Augen.
„Ich will spielen“, flüsterte er. „Aber ich brauche deine Erlaubnis. Nur dann darf ich nachts herauskommen.“
„Erlaubnis? Warum?“ fragte Lena.
„So sind die Regeln. Einmal ‚Ja‘, und wir sind verbunden. Für immer.“
Lena schluckte. Für immer klang gefährlich. Aber irgendetwas in Nox’ Stimme machte sie neugierig. Vielleicht war er wirklich nur einsam.
„Und wenn ich Nein sage?“ fragte sie.
Da grinste Nox schief. „Dann flüstere ich weiter. Jede Nacht. Immer lauter. Bis du nicht mehr schlafen kannst…“
Lena bekam Gänsehaut. Aber sie war auch clever. „Gut“, sagte sie schnell. „Dann machen wir einen Vertrag. Aber ich bestimme die Regeln: Du darfst nur nachts herauskommen, wenn ich es erlaube. Und du darfst niemandem wehtun. Sonst ist alles vorbei!“
Nox’ Augen blitzten. „Einverstanden…“ hauchte er. Dann verschwand er wieder im Schrank.
Das Geheimnis bleibt zwischen den beiden
Von dieser Nacht an war alles anders. Wenn Lena es wollte, kam Nox heraus und spielte mit ihr. Sie spielten Verstecken im Zimmer, erzählten sich Geschichten oder schauten zusammen Bilderbücher an.
Nox konnte die Seiten bewegen, ohne sie zu berühren, und manchmal ließ er kleine Schattenfiguren an der Wand tanzen.
Es war aufregend. Und manchmal auch etwas unheimlich. Denn immer, wenn er lachte, klang es ein bisschen zu kalt, ein bisschen zu fremd. Doch er war wirklich netter, als sie gedacht hatte.
Niemand glaubte Lena, dass es Nox gab. Für ihre Eltern war alles normal. Doch Lena wusste: In ihrem Schrank wohnte ein Wesen, das nur sie sehen konnte.
Manchmal fragte sie sich, ob sie den Vertrag bereuen würde. Doch dann dachte sie daran, wie einsam Nox zuvor geklungen hatte. Vielleicht war er gar kein Monster, sondern einfach nur ein seltsames Wesen, das niemand verstand.
Und so blieb das Geheimnis bestehen. Tagsüber war Lena ein ganz normales Mädchen. Nachts aber hörte sie das vertraute Flüstern: „Lenaaa… ich bin hier… komm, spiel mit mir…“
Und jedes Mal, wenn sie die Schranktür öffnete, leuchteten zwei kleine Augen im Dunkeln – und das Abenteuer begann von Neuem.