Die Taschenuhr ohne Zeiger: Wenn die letzte Stunde schlägt
Junge findet Taschenuhr auf Dachboden
Lukas war zwölf Jahre alt, als er auf dem Dachboden der Großeltern die kleine Schachtel fand. Staub bedeckte alles, Spinnenweben hingen wie Gardinen von den Balken. In der Schachtel lag eine Uhr. Eine schwere, alte Taschenuhr.
Doch etwas stimmte nicht. Es gab keine Zeiger. Kein Glas. Nur ein kahles Ziffernblatt mit runden Vertiefungen.
Neugierig nahm Lukas sie mit nach unten. „Schau mal, was ich gefunden habe!“, rief er seiner Schwester Marie zu.
Der Großvater, der im Sessel saß, erstarrte, als er die Uhr sah. „Leg das weg“, zischte er mit scharfem Unterton. „Die Uhr… sie gehört niemandem mehr.“
„Aber sie tickt gar nicht“, protestierte Lukas. „Sie ist kaputt.“
Der Großvater blickte ihn lange an, als wolle er etwas sagen, und schwieg dann.
Uhr beginnt nachts zu ticken
In der ersten Nacht legte Lukas die Uhr auf seinen Nachttisch. Er schlief schnell ein.
Doch irgendwann erwachte er. Ein Geräusch füllte das Zimmer. Tick… tick… tick.
Er riss die Augen auf. Die Uhr ohne Zeiger lag auf dem Tisch, reglos, und doch schien sie zu schlagen wie ein Herz.
Lukas schüttelte sie, klopfte dagegen. Das Ticken hörte auf.
Als er die Augen wieder schloss, begann es von Neuem.
In dieser Nacht träumte er von einem langen Flur. Endlos, dunkel, nur das Ticken hallte darin wider. Am Ende des Flurs stand eine Tür. Auf der Tür war ein Ziffernblatt – ohne Zeiger.
Als er die Klinke berührte, fuhr er schreiend hoch.
Albträume werden immer schlimmer
Am nächsten Abend erzählte er Marie davon. Sie lachte. „Das war nur ein Traum.“
Doch in der zweiten Nacht träumte Lukas wieder. Diesmal stand jemand im Flur. Eine Gestalt, schwarz wie Rauch, groß und unbeweglich. Sie hob langsam den Kopf und dort, wo ein Gesicht hätte sein müssen, war ein rundes Loch. Darin tickte etwas.
„Die Zeit läuft…“, flüsterte die Gestalt.
Lukas schrie, wachte auf und fand die Uhr in seiner Hand. Obwohl er sie auf den Nachttisch gelegt hatte.
Am Morgen hatte er Kratzer an den Fingern, als hätte er im Schlaf gegen etwas Hartes geschlagen.
Am dritten Abend nahm Marie die Uhr. „Dann probiere ich’s eben!“, sagte sie trotzig.
In der Nacht hörte Lukas sie schreien. Er rannte in ihr Zimmer und fand sie schweißnass im Bett, die Uhr auf der Brust.
„Der Flur… die Tür…“, stammelte sie. „Jemand war hinter mir…“
Albträume greifen in Wirklichkeit über
Von da an wagten beide kaum noch zu schlafen. Doch irgendwann übermannte sie die Müdigkeit. Und immer kam die Uhr.
Im Traum verfolgte Lukas nun nicht nur die Gestalt… er hörte auch Stimmen. Namen, flüsternd. Seine, Maries, die der Eltern. Jedes Mal lauter.
Und am Morgen fanden sie Spuren. Fußabdrücke aus Staub im Flur. Fingerabdrücke auf dem Fenster, obwohl es geschlossen war.
Der Vater glaubte ihnen nicht. „Einbildung“, sagte er. Doch auch er nahm die Uhr eines Abends in die Hand, neugierig von den Geschichten, die seine Kinder ihm erzählt hatten.
In dieser Nacht hörten Lukas und Marie, wie der Vater schrie. Sie stürmten ins Schlafzimmer und fanden das Bett leer. Nur die Uhr lag auf dem Kissen. Sie tickte.
Der Vater blieb verschwunden. Niemand fand ihn je wieder. Niemand.
Wenn die letzte Stunde schlägt: Gnadenloses Ende
Nach dem Verschwinden des Vaters beschlossen die Kinder, die Uhr zu vernichten. Sie schlugen mit dem Hammer darauf – nichts. Sie war unzerstörbar.
„Wir müssen sie zurückbringen“, flüsterte Marie. „Dorthin, wo wir sie gefunden haben.“
Also schlichen sie auf den Dachboden. Doch oben stand bereits die Gestalt. Groß, schwarz, mit dem Loch im Gesicht. In der Leere drehte sich nun ein Uhrwerk, riesig, zahnradumrankt. Es tickte laut, lauter, bis es den ganzen Dachboden erfüllte.
„Es ist Zeit“, flüsterte sie.
Die Uhr in Lukas’ Hand begann zu schlagen wie ein Herz. Ein Schlag, noch einer, immer schneller.
„Wenn wir sie wegwerfen, hört es vielleicht auf!“, schrie Marie. Doch Lukas’ Finger klebten daran, als wären sie angewachsen. „Los! Wirf sie schon weg!“
Das Ticken wurde zu einem Rasseln. Die Luft vibrierte. Dann öffnete sich der Boden. Unter ihnen tat sich der endlose Flur auf, den sie aus ihren Träumen kannten.
Die Gestalt packte Marie, zog sie hinunter. Sie schrie, ihre Stimme hallte, bis sie in der Tiefe verschwand.
Lukas stand allein. Die Uhr tickte, schneller, schneller – bis er nichts mehr hörte. Als die Mutter später den Dachboden betrat, fand sie nur Staub. Und eine Uhr ohne Zeiger.